Achtsamkeit ist in aller Munde – ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit, die Praxis des bewussten Wahrnehmens und Erlebens scheint das neue Allheilmittel für Stress und Hektik des modernen Lebens zu sein. Doch bei all der Begeisterung dürfen wir nicht vergessen, dass auch die Achtsamkeit ihre Schattenseiten haben kann. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf drei Aspekte, die uns dazu anregen sollten, unsere Achtsamkeitspraxis kritisch zu hinterfragen.
Die Gleichwertigkeit der Gedanken: Ein Trugschluss?
Wir werden oft angeleitet, unsere Gedanken wie vorbeiziehende Autos zu betrachten – sie zu bemerken und dann wieder loszulassen. Doch ist es wirklich immer sinnvoll, Gedanken keine Beachtung zu schenken? Sicherlich, grübeln über eine bevorstehende Präsentation oder eine Zahnarztbehandlung kann unproduktiv sein. Andererseits können bestimmte Gedanken und Gefühle, wie etwa Ärger über politische Entscheidungen, durchaus wichtig sein. Sie helfen uns, unsere Welt zu navigieren und können uns zeigen, wie wir uns verhalten sollten. Manchmal ist es also durchaus angebracht, unseren Gedanken und Gefühlen Aufmerksamkeit zu schenken und sie ernst zu nehmen, anstatt sie als vorüberziehende Wolken am Himmel der Bedeutungslosigkeit abzutun.
Die Illusion der Aufmerksamkeitskontrolle
Achtsamkeit basiert auf der Vorstellung, dass wir die volle Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit haben – dass unser Geist einem Scheinwerfer gleicht, dessen Strahl wir nach Belieben richten können. Doch diese Ansicht ist stark vereinfacht und wird der Komplexität unserer Aufmerksamkeit nicht gerecht. Oftmals entzieht sich die Aufmerksamkeit unserem bewussten Zugriff. Smartphones und andere Ablenkungen der modernen Welt zeigen, dass unsere Aufmerksamkeit nicht nur von uns selbst, sondern auch von unserem sozialen und materiellen Umfeld beeinflusst wird. Unsere Aufmerksamkeit ist also nicht nur unser eigenes Gut, sondern auch ein Produkt unserer Umgebung.
Das Jetzt ergreifen: Ein unmögliches Unterfangen?
„Carpe Diem“ – genieße den Tag und lebe im Moment. Dieses Mantra der Achtsamkeit klingt verlockend, aber die Vorstellung vom „Jetzt“ steht im Widerspruch zu unserer tatsächlichen Erfahrung der Zeit. Wie der französische Philosoph Henri Bergson erkannte, erleben wir Zeit nicht wie einen Kalender oder eine Uhr, sondern in Form von Dauer. Unser Erleben der Zeit ist immer in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft verankert. Unsere Erfahrungen und Handlungen sind kohärent und sinnvoll, weil sie auf unserer Vergangenheit basieren und auf unsere Zukunft ausgerichtet sind.
Achtsamkeit mit Bedacht genießen
Es soll nicht der Eindruck entstehen, Achtsamkeit sei grundsätzlich negativ. Millionen von Menschen weltweit praktizieren sie und erleben positive Effekte, wie etwa eine intensivere Wahrnehmung beim Essen oder eine erhöhte Gelassenheit im Umgang mit alltäglichen Sorgen. Achtsamkeit kann uns helfen, mehr Verantwortung für unsere Aufmerksamkeit zu übernehmen und weniger in der Vergangenheit oder Zukunft zu verweilen. Doch wie bei fast allen philosophischen Strömungen und Selbsthilfe-Trends ist auch hier ein maßvoller und durchdachter Ansatz der Schlüssel zum Erfolg. Achtsamkeit ist kein Allheilmittel, sondern ein Werkzeug, das mit Bedacht und im Bewusstsein seiner Grenzen eingesetzt werden sollte.